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Stadtwerke als Opfer eines "House of Cards"?

Barsinghausen.

Wenige Tage vor der Barsinghäuser Bürgermeisterwahl im letzten Oktober berichtete eine regionale Tageszeitung in ihrem Regionsteil über den Vorwurf der Bereicherung bei den Stadtwerken Barsinghausen. Wie die Zeitung berichtete, sollten Stadtwerke-Geschäftsführer Jochen Möller und Betriebsleiter Torsten Holzhausen vermeintlich zu Unrecht Zahlungen für so genannte "übergeordnete Bereitschaften" erhalten. Viele Tausend Euro kamen ins Spiel, die angeblich dem städtischen Unternehmen Schaden zugefügt hätten, von Selbstbedienung war die Rede.

Unsere Redaktion hat es damals abgelehnt, kurz vor dem Wahltermin hektisch Fakten zu ermitteln. Statt dessen haben wir uns damals entschieden, Fakten zu sammeln und nach Antritt des neuen Bürgermeisters das Thema anzugehen. Das ist nun der Fall.

Vorne weg: Es gab nach unseren Recherchen keine Selbstbedienung und keinen erkennbaren Schaden. Es scheint dafür inzwischen eher so, als handele es sich möglicherweise um eine Abrechnung des früheren Bürgermeisters - vielleicht aus gekränkter Eitelkeit?

In den vergangenen Wochen haben wir viele Gespräche geführt und interessanterweise auch vertrauliche Akten-Auszüge bekommen - ungefragt und anonym. Das ganze Geschehen hat langsam Ausmaße wie eine Mini-Folge von "House of Cards" und zeigt, dass Kommunalpolitik manchmal auch unschöne Seiten hat.

"Ãœbergeordnete Bereitschaften"

Zu den Fakten: Der frühere Stadtwerke-Geschäftsführer Heiko Wilhelmsen (bis 2011) bekam bereits für "übergeordnete Bereitschaften" jeden Monat mit seinem Gehalt und auch auf der Gehaltsabrechnung ausgewiesen feste Summen. Was sind "übergeordnete Bereitschaften"? Das ist schnell erklärt: wenn eine Störung auftritt, fährt ein Techniker die betroffene Anlage an. Einer der Vorgesetzten ist dann per Telefon "dabei", überwacht also, dass der Mitarbeiter die Anlage betritt und wieder verlässt und auch wieder zu Hause ankommt. Sollten Entscheidungen zu treffen sein, übernimmt das ebenfalls der Vorgesetzte via Telefon - oder kommt ebenfalls ins Werk zur Entscheidung vor Ort. Dafür, dass der Techniker im Bedarfsfall "rausfährt", erhält er einen Bereitschafts-Zuschlag. Und der Vorgesetzte ebenfalls - für übergeordnete Bereitschaften. Das Verfahren ist normal, die Summen sind branchenüblich - und das Procedere gibt es schon sehr lange bei den Stadtwerken Barsinghausen.

Ist Schaden entstanden?

Nun haben also sowohl der Geschäftsführer als auch der Betriebsleiter solche übergeordnete Bereitschaften bezahlt bekommen. Jeder für einen anderen Geschäftsteil, aber eben auch als Vertreter des jeweils anderen bei Krankheit oder Urlaub. Damit ist stets eine Entscheidungs-Bereitschaft sichergestellt. Ob der Geschäftsführer und der Betriebsleiter oder eine andere Führungsperson diese Aufgabe übernimmt, ist dem Grunde nach nicht relevant. Denn dass die Kosten anfallen, ist insoweit grundsätzlich unstreitig.

Wo liegt dann das Problem?

Im Jahr 2011 wurde die Situation der übergeordneten Bereitschaften vom Rechnungsprüfungsamt (RPA) unter die Lupe genommen. In einem Vermerk hat der spätere Chef des RPA, Roland John, das Verfahren zumindest kritisiert und angeregt, es auf andere Beine zu stellen. Auch hier ging es nicht darum, DASS dieses Geld gezahlt wird, sondern nur, dass es in einem anderen Verfahren erfolgen sollte. Pikant: Dieser Vermerk wurde vom Ersten Stadtrat abgezeichnet, also zur Kenntnis genommen. Zu diesem Zeitpunkt - die Unterschrift zeigt es gut lesbar - war Marc Lahmann noch Erster Stadtrat. Seit 2011 wusste Marc Lahmann also von dem Verfahren, das schon Jahre vorher praktiziert wurde. Geändert wurde das Verfahren nicht, auch nicht als Lahmann, der als aufmerksamer Leser mit einem bemerkenswerten Erinnerungsvermögen gilt, 2013 zum Bürgermeister gewählt wurde. Auf den Sachverhalt angesprochen erklärt der Alt-Bürgermeister, dass er nicht 2011 davon Kenntnis bekam, sondern erst später - "vermutlich 2017/2018".

Zeitlicher Zusammenhang zwischen Wasserwerk-Entscheidung und Personal-Attacken?

Bis 2017/2018 blieb das Thema weitgehend ohne öffentliche Wahrnehmung. Erst als poltisch hart darüber gestritten wurde, wie und mit wem ein neues Wasserwerk herzustellen sei, kommt es zu bemerkenswerten zeitlichen Überschneidungen der Themen. Offenbar einmal zu viel soll Torsten Holzhausen öffentlich und hinter verschlossenen Türen dem Stadtoberhaupt Lahmann fachlich widersprochen haben. Die Mehrheit der Entscheider stellte sich am Ende hinter die Favorisierung von Stadtwerke-Chef Möller und Betriebsleiter Holzhausen. Das war möglicherweise der Auslöser für das, was dann geschah.

Plötzlich geht eine viele Seiten umfassende Strafanzeige ein

Kaum waren die öffentlichen Schlachten geschlagen, erblickte eine anonyme Strafanzeige mit mehr als einem Dutzend Seiten voller Detailwissen das Licht der Welt. Die Staatsanwaltschaft begann Ermittlungen, stellte das Verfahren jedoch bald wieder ein. Überraschend dabei sind die Seiten voller Genauigkeiten, die die in Frage kommenden Personen auf einen recht kleinen Kreis reduziert. Gegenstand ist darin auch das Thema "übergeordnete Bereitschaften". Weiter ging es dann 2019 mit einer Anfrage des Bürgermeisters bei der Kommunalaufsicht, die diverse Sachverhalte rund um die Stadtwerke prüfen sollte - auch die "übergeordneten Bereitschaften". Aber auch die Kommunalaufsicht winkte schnell ab: es gab keine Rechtsverstöße. Alt-Bürgermeister Marc Lahmann betont, er habe nichts mit der Anzeige zu tun und auch keine Informationen durchgestochen.

Mitarbeiter berichten von "verhörartigen" Befragungen

Doch damit war das Thema noch nicht abgeschlossen. Offenbar gezielt wurden einzelne Mitarbeiter zu "verhörartigen Befragungen" teilweise ins Rathaus zitiert und sollten Aussagen zu den "übergeordneten Bereitschaften" treffen. Und auch vor dem Stadtwerke-Geschäftsführer wurde nicht Halt gemacht. Kenner der Szene berichten übereinstimmend, dass Marc Lahmann als Aufsichtsratsmitglied den Antrag gestellt habe, Möller fristlos zu entlassen. Die genauen Hintergründe dazu blieben im Verborgenen, als "befremdlich" wurde nur der Zeitpunkt wahrgenommen: Möllers Frau war kurz zuvor verstorben.

Vor der Wahl wird es brisant

Wenige Tage vor der Wahl eines neuen Bürgermeisters erfolgte dann die eingangs erklärte Berichterstattung - auch hier sind die zeitlichen Zusammenhänge wenigstens bemerkenswert. Im politischen Raum wird spätestens seit diesem Zeitpunkt relativ laut spekuliert, dass es sich um ein "Abschiedsgeschenk" des Alt-Bürgermeisters Marc Lahmann handele. Dass das Thema noch nicht ausgestanden ist, scheint offenkundig. Der Finanzausschuss wird schon in Kürze über die Entlastung des Aufsichtsrates öffentlich beraten. Möglicherweise kommt dann noch einmal der ganze Vorgang "auf den Tisch". Der neue Bürgermeister, Henning Schünhof, sollte den Vorgang in den nächsten Monaten aufarbeiten lassen. Der politische Sprengstoff in diesem Thema ist zu groß, um ihn einfach so ins Archiv zu entsorgen.

Wir haben zur Überprüfung der erhaltenen Unterlagen und zur weiteren Sichtung der Gesamtlage Gespräche unter anderem mit folgenden Personen geführt: Jochen Möller (Geschäftsführer der Stadtwerke), Dirk Härdrich (SPD, Aufsichtsratsvorsitzender der Stadtwerke), Roland John (früherer Leiter des Rechnungsprüfungsamtes), Axel Heyerhorst (amtierender Leiter des Rechnungsprüfungsamtes), Bürgermeister Henning Schünhof (SPD), Oberstaatsanwalt Thomas Klinge, Regions-Pressesprecher Klaus Abelmann, Alt-Bürgermeister Marc Lahmann (CDU), Bernd-Konrad Bohrßen (CDU, stv. Aufsichtsratsvorsitzender der Stadtwerke).